Osteuropa-Literatur discussion
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Hallo Christiane, danke für die Befriedigung meiner Neugier. Meine Vermutung lag ziemlich daneben. So ist das mit den Bildern, die man sich macht, sie können einen völlig falschen Eindruck vermitteln.
Dein Leben ist so anders als meins. Ich habe manchmal darüber nachgedacht, etwas anderes zu machen, halte aber immer am Gewohnten fest. Meine Eltern wohnen noch immer in der Wohnung, in die sie 1961 eingezogen sind. Ich bin von ihnen über Lehrlings-, Arbeiter- und Studentenwohnheim irgendwann zu meinem späteren Mann gezogen und gleich mit ihm hier an Stadtrand von Dresden. Dort wohne ich noch und arbeite seit 38 Jahren auf einer Stelle bei der Stadt Dresden. Diese Kontinuität ist wohl das Gegenteil von deinem Leben - da muss man wohl unterschiedliche Bücher mögen. ;-)


Das Programm liest sich sehr interessant. Da bist du in Frankfurt ja in der pole position :))!

Es war großartig diese Autoren life zu erleben. Filipenko hat ja vor seiner endgültigen Emigration in St. Peterburg gelebt und sein neuster Roman Die Jagd, spielt denn auch in diesem Lande. Ihm sieht man die Belastungen an. Obwohl ein junger und attraktiver Mann hielt er den Kopf meistens gesenkt. Seine Meinung über Russland ist vernichtend "Eine Nation ohne Gesellschaft", d.h. jegliche unkontrollierte Strukturen sind ausgemerzt werden. FIlipenkos Stimme ist sehr leise und sanft. Man spürt den ehemaligen Musiker in ihm. Erst, wenn seine Verbitterung zum Vorschein kommt, wird sie lauter, härter.
Artur Klinaŭ - von ihm hatte ich vor Jahren Minsk Sonnenstadt Der Träume gelesen - sieht Belarus mittlerweile völlig abhängig von Russland. Solange sich dort nichts ändert, sind auch Änderungen in Minsk nicht möglich. Den gesellschaftlichen Hintergrund der Proteste des Jahres 2021 hat er in seinem neuen Buch Acht Tage Revolution – Ein dokumentarisches Journal aus Minsk vorgestellt. Für mich neu war, wie sehr Lukaschenkos fatale Handhabung der COVID-Epidemie sein Ansehen und die Zuversicht im Volk untergraben hat und letztendlich Wegbereiter für die Demonstrationen war. Beide, Filipenko und Klinaŭ sprachen auf Deutsch und wurden konsekutiv gedolmetscht. Klinaŭ spricht auch fließend Polnisch, so dass meine Frau und ich ein paar Worte mit ihm wechseln konnten.
DER Höhepunkt des Abends war aber Andrej Kurkow, und nicht nur weil er fließend Deutsch spricht. Aus ihm spricht eine Verschmitzheit und Freude am Bizarren, eine Lebens- und Schaffenslust, die ihres Gleichen sucht. Für ihn ist es kein Zufall, dass Gogol und Bulgakow Ukrainer waren, Dostojewski aber Russen: "Finden sie mal Humor bei Dostojewski." Er betonte, dass es in der Ukraine kaum mehr Russen, sondern vorwiegend russisch sprechende Ukrainer gibt. Er selbst sieht ja Russisch als Muttersprache an, schreibt aber Artikel und Kinderliteratur auch auf Ukrainisch. Interessant war, dass laut Kurkow die meisten ukrainische Autoren momentan keine Romane schreiben, sondern Blogs bzw. Journale und Tagebücher, in der Hoffnung, dass sie diese in der Zukunft literarisch verarbeiten können. Er selbst hat "Graue Bienen" geschrieben, weil ihm in all den Publikationen das Schicksal der einfachen, unpolitischen Leute im Donbas zu kurz kam, die sich plötzlich gezwungen sahen einer Nation zuzurechnen. Interessant war seine Erklärung, warum auch er nicht begeistert ist, wenn der Westen unvermindert an seine kulturellen Verehrung Russlands festhält. Die Dominanz der russischen Kultur ist seiner Meinung nach auch eine Spätfolge der Kulturpolitik der Sowjetunion, die essentiell eine rein russische war und in deren Folge die Kulturen den anderen Sowjetrepubliken, und da besonders die ukrainische im Ausland kaum bekannt waren. Kurkow beendete seinen Beitrag mit dem Aufruf sich mit der Ukraine und ihrer Geschichte zu beschäftigen und Autoren wie Timothy Ash, Anne Applebaum oder auch Karl Schlögel zu lesen.
Als besonderes Schmankerl ist es uns gelungen Widmungen von den drei Autoren zu erhalten.

Es war großartig diese Autoren life zu erlebe..."
Kann ich alles nachvollziehen. Würde auch meinen, dass sich "Russen" und "russischsprechende Ukrainer" in den letzten Jahren voneinander geschieden haben, je nachdem, für welche Seite sie nach 2014 Partei ergriffen haben. Was allerdings die Dominanz der russischen Literatur/ Kultur anbelangt, so darf man deren dominante Geschichte im deutschsprachigen Raum bereits zu einer Zeit, als die Gebiete der anderen späteren Sowjetliteraturen in ganz Europa kulturelle Leerräume waren, nicht vergessen. Das stiftet Traditionen und außerdem ist die Relevanz Russlands für die deutsche Außen- und Innenpolitik immer größer gewesen als die Kazakhstans. Nun ja, jetzt wird Kurkow schon befriedigt werden, denn die Ukraine rückt in den Focus und wie wir hier sehen, ist da viel zu gewinnen. Anders ist es aber mit dem Blick in die Geschichte. Es gibt im 18. oder 19. Jahrhundert in der Ukraine wenig bis nichts, das man mit Puschkin (Schewtschenko ist da allenfalls interessant - aber Mickiewicz kennt in Deutschland auch keine S...u.) oder Tolstoi vergleichen könnte. Gogol, ok, aber der ist in Deutschland wie Bulgakow als Teil der russischen Literatur bekannt. Und dass die Literatur der anderen Sowjetrepubliken das Ausland nicht erreichte, stimmt nur, wenn man die (z.T. illegalen) Produkte in den jeweiligen Landessprachen zum Maßstab nimmt. Wer Russisch schrieb (von Aitmatow über Kim bis Scholochow- wenn es ein Ukrainer sein soll) bzw. ins Russische übersetzt war, wurde in der DDR z.B. durchaus rezipiert. Nicht zu vergessen die jüdische "ukrainische" Kunst (Kandinsky!) und Literatur z.B. aus Czernowitz, die von den Ukrainer bewusst aus ihrer Tradition ausgeschieden wird. Was übrig bleibt, ist weitgehend Provinz. Meint, bisher ist, soweit ich sehe, unter allen unterdrückten Autor/innen ukrainischer oder "sowjetischer" Provinienz niemand von Weltgeltung oder wenigstens Relevanz "wiederentdeckt" worden. Das mag an der Repression gelegen haben, der viele ukrainische Autoren zum Opfer gefallen sind, aber von denen, die ansonsten geschrieben haben, ist eher kein sensationelles Come Back in Deutschland oder Europa zu erwarten. Würde mich interessieren, wen Kurkow uns zur Übersetzung vorschlagen könnte. Dabei ändere ich meine Meinung sofort, wenn der oder die erste auftaucht und Furore macht. ;-) Aber das ist nur Kommentar zu einem Aspekt. Schön, wenn es euch ansonsten gefallen hat. Hast du Kurkow von mir gegrüßt? ;-) Ich stimme deiner Charakteristik seiner Persönlichkeit vollkommen zu. Wie ich hier schon erwähnt hatte, kenne ich ihn von Lesungen in der Deutschen Botschaft Kiew. Damals hatte er noch keine so gute Meinung von der ukrainischen Literatur. Ist halt alles auch eine Frage der Perspektive.


Adam Mickiewicz wurde auf dem Gut Zaosie geboren und wuchs in Nowogródek (Nawahrudak) auf, das heute in Belarus liegt. Sein Elternhaus habe ich dort vor 3 Jahren besichtigt. Er gehört zum polnischen Landadel, schrieb auf polnisch und zählt zum polnischen Dreigestirn der Nationalromantiker (außer ihm noch Julian Słowacki und Zygmunt Krasiński), ABER sein Nationalepos "Pan Tadeusz" beginnt mit den Worten: "Litauen, Du mein Vaterland". Alle drei Nationen reklamieren ihn für sich.

Adam Mickiewicz wurde auf dem Gut Zaosie geboren und wuchs in Nowo..."
Danke für die Infos! Ich fühle mich irgendwie bestätigt ☺!



Tatsächlich träume ich davon irgendwann die wichtigsten Werke aus dem Schulkanon unsere europäischen Nachbarn zu lesen. Von Petöfi kenne ich übrigens einige Gedichte, Eminescu war mir aber bislang nicht bekannt. Und wer das finnische Nationalepos "Kalevala" geschrieben bzw. zusammengestellt hat, musste ich auch erst nachschlagen. Aber den Anspruch habe ich doch. Allerdings beschränke ich mein Ziel wegen der kulturellen Nähe auf Europa und bestenfalls noch Nordamerika und Australien. Kurkow hat tatsächlich an dem Abend einige Autoren genannt, von denen er wünschte sie wären ins Deutsch übersetzt.

https://www.faz.net/podcasts/f-a-z-bu...

Eine Buchempfehlung aus der Welt der indonesischen Literatur ist Tigermann von Eka Kurniawan aus dem Ostasien Verlag. Außerdem gibt es jede Menge Kurzgeschichtensammlungen auch in englischer Sprache.
Ich bin nicht der Meinung, dass Literatur im Leseland (in erster Linie) Relevanz haben sollte (wobei ich mir natürlich darüber im Klaren bin, dass Verlage vom Absatz abhängig sind). Ob Literatur im Leseland Relevanz hat, sagt nichts über die Qualität des Titels aus. Ich finde, es ist gerade wichtig, seine Komfortzone zu verlassen und mal ein Buch in die Hand zu nehmen, was einem so ganz neue Welten eröffnet. (Ngũgĩ wa Thiong'o ist ein guter Einstieg in kenianische Literatur und die Auseinandersetzung mit Sprache und Kolonialismus, hier kann man ggf Parallelen ziehen zur Situation des Russischen in der Ukraine.)
Zur ukrainischen Literatur: ich finde die Videos von Mystetskyi Arsenal informativ, z.B.
https://m.youtube.com/watch?v=c6rTfuL...

https://www.faz.net/podcasts/f-a-z-bu...-..."
Super, danke!

https://www.faz.net/podcasts/f-a-z-bu...-..."
Ich habe es mir heute angehört, es war sehr aufschlussreich. Danke fürs Teilen.

Das Ukrainian Institute London hat eine Online Sommerkurs zur ukrainischen Literatur "Literatura". Der Kurs läuft vom 10. Juni bis zum 29. Juli (über acht Abende), jeweils von 18:30 - 20 Uhr (UK), also 19.30 - 21 Uhr (deutsche Zeit) über Zoom.
Das Seminar deckt ein breites Spektrum ukrainischer Literatur ab, angefangen von Taras Shevchenko über Ivan Franko, Lesia Ukrainka und Olha Kobylianska sowie Dissidenten der 60er - 80er Jahre, wie Vasyl Stus, bis zu aktueller ukrainischer Literatur (in ukrainischer und russischer Sprache).
An jedem Abend gibt es einen kurzen Vortrag und eine darauffolgende Diskussion. Die Vortragenden sind Dozenten an Universitäten in der Ukraine, UK und USA. Die Sprache der Unterlagen und der Diskussion ist Englisch.
Hier ist ein Link mit weiteren Informationen. Man kann sich entweder für den ganzen Kurs anmelden oder auch nur für einzelne Abende: https://uil.org.uk/literatura-intensi...
Ich dachte mir, vielleicht hat der eine oder andere an einer solchen Veranstaltung Interesse.

Books mentioned in this topic
Tigermann (other topics)Die Jagd (other topics)
Minsk - Sonnenstadt der Träume (other topics)
Acht Tage Revolution – Ein dokumentarisches Journal aus Minsk (other topics)
Authors mentioned in this topic
Eka Kurniawan (other topics)Ngũgĩ wa Thiong'o (other topics)
Ein Treffen würde mir auch gefallen, also wenn du mal in Dresden sein solltest, sag Bescheid. Ein paar aus der Gruppe hatten sich schon verabredet, wir wollten uns eigentlich dieses Jahr treffen, "nach Corona um drei." ;-) , ist aber noch nicht soweit.
Man macht sich so seine Vorstellungen vom anderen, geht mir auch so. Da kann ich mal meine neugierige Frage nach deinem Beruf anbringen. Ich vermute irgendwas im sozialen Bereich, liege ich richtig?